Schule des Sehens
- Von Alina Lebherz, Studentin Kulturwissenschaft
- Erschienen in Ausgabe Nr. 115 (2016/2)
„Birdie“ auf dem internationalen Festival Theater der Dinge in der Schaubude Berlin
„Digital ist besser“ – unter diesem Motto veranstaltete die Schaubude Berlin das diesjährige internationale Festival für Figuren- und Objekttheater. Und so erzählt die Inszenierung „Birdie“ der katalonischen Theatergruppe Agrupación Señor Serrano ihre Geschichte über aktuelle Fragen der Flüchtlingsbewegung und Migration fast ausschließlich durch den Blick der Kamera. Dem Stück wohnt eine beeindruckende Kraft inne, welche sich gerade in der Verbindung beider Elemente entfaltet. Denn es ist eine große Stärke dieser speziellen Theaterspieltechnik sichtbar zu machen, wie Bilder entstehen, wie sie wahrgenommen werden und wie sie unsere eigene Wahrnehmung verändern. Der Fokus der Inszenierung liegt ganz auf den Bildern. Daher wird trotz einer Unterteilung in fünf Akte keine klassische, lineare Dramaturgie verfolgt. Die Bühne ist geteilt in zwei Sphären: Vorne sind winzige Figürchen aufgebaut, reglos verharrend, statisch; im Hintergrund befindet sich die Leinwand, flimmernd, gefüllt mit Bildern und Bewegung. Dazwischen agieren die vier DarstellerInnen, Verbindungselemente beider Welten und doch rollenlos, aktiv erst im Zusammenspiel mit der Kamera. Diese folgt den starren Figuren, verschiedenen Objekten, Fotografien, Miniaturmodellen und verleiht ihnen dadurch ein Moment der Bewegung, ein Moment des Erwachens. Die Technik wird nicht hinter einem Vorhang versteckt, sondern offen gezeigt: Zwei der Darsteller filmen im Zusammenspiel miteinander unentwegt das Bühnenbild, die dritte Person kreiert direkt auf der Bühne, ähnlich wie ein DJ, den Film. So huschen auf der Leinwand, im Zusammenspiel mit dem spontan entstehenden Film auf der Bühne, Bilder an Bildern aneinander vorbei; gespickt aus Schlagzeilen, Popkultur und Filmzitaten – kurz: dem kulturellen Gedächtnis unserer Zeit.
Die Bilderserie beginnt mit dem Alarm eines Weckers, zeigt daraufhin Facebook-Einträge, Interviews, Golfbälle, die sich in Weltkugeln verwandeln, Zitate, Bilder von Touristen am Strand, und immer wieder Ausschnitte des Hitchcocks-Films „Birds“, die für eine angespannte Atmosphäre sorgen und die unbegründete Angst vor dem Unbekannten in Frage stellen. Denn wovor haben wir eigentlich Angst? Aber schon geht es weiter Effekte türmen sich auf Effekten, wir sehen virtuelle Gesichter, ein Close-up des Auges eines Darstellers; unendliche Assoziationen. Mit diesen Bildern wird das Publikum in „Birdie“ konfrontiert. Sie stehen im Zusammenhang mit der Situation geflüchteter Menschen auf der einen Seite und Menschen der wohlhabenden sogenannten westlichen Welt auf der anderen Seite. Und dazwischen immer wieder Zugvögel und ihre Silhouetten am Himmel. Bis die Maschinerie plötzlich stoppt. Der Blick bleibt hängen an einem berühmten Foto. Einem Bild, welches zum Symbol für die Festung Europa wurde, zu finden im Internet unter dem Suchbegriff „Melilla Golf“. Es zeigt, wie Menschen afrikanischer Herkunft an der Grenze von Marokko zur spanischen Exklave Melilla über einen viele Meter hohen Zaun klettern, während zwei Golfspieler ihre Bälle abschlagen. Das Foto sei ein Sinnbild für das Hässliche, das vor sich gehe, so die eingespielte Stimme des Fotografen José Palazón.
Wir, als Zuschauer und Zuschauerinnen, werden gezwungen genau hinzusehen. Die Theatergruppe fragt: Was befindet sich hinter diesem Bild? Was lässt sich entdecken, wenn wir einen Schritt zurückgehen und uns für ein einziges Bild Zeit nehmen? So wird die Fotografie analysiert, ästhetisiert und kritisiert. Denn Leute würden den Bildern trauen, ohne sie zu befragen, so die Stimme aus dem Off. Es ist die Macht der Bilder und damit auch die Macht der Medien, die offengelegt wird.
Doch schon geht die Bilderflut weiter. Wir wenden uns erneut den Figürchen auf der Bühne zu. Aufgebaut in einer langen Reihe, bestehend aus nackten Babys, Tieren, darunter auch Einhörner und Menschen, die sich alle auf der Wanderung befinden. Zwischendurch gibt es Notunterkünfte, Klimakatastrophen und schwarze Löcher. Die Figurenreihe erinnert nicht nur an die Evolution, sondern stellt vielmehr eine unendliche Liste dar; eine Liste, deren Ordnung wir nicht verstehen. Durchgängig vermischt sich dabei das Geschehen auf der Bühne mit anderweitigem Bildmaterial.
Und so bietet diese Technik des Theaterspielens eine Möglichkeit, den Mythos der Bilder, der unbewegten und der bewegten, zu durchbrechen. Es ist das Prinzip, jeden Trick auf der Bühne, jedes Moment der Verschleierung offenzulegen. Dadurch wird der Entstehungsprozess der Inszenierung mitreflektiert. Wir, als Zuschauende, sehen live zu, wie das Bewegtbild auf der Leinwand und das Theaterstück entstehen. Selbst die Nachbereitung des Stücks ist in die Spielzeit integriert. Aufgeräumt wird während der Spieldauer auf der Bühne. Auch die Theatergruppe selbst ist in ständiger Bewegung, bereit für den nächsten Auftritt.
So reflektiert auf die Praxis der Darstellung sich das Stück auch gibt: Die inhaltliche Aussage hat mir zu denken gegeben. Das Leben und die Welt bestehe aus einer unendlichen Kette an Bewegungen. Selbst die kleinsten Elemente, jeder Lichtstrahl bewegten sich. „Bewegung ist Natur“, so Pau Palacios, einer der Ideengeber der Inszenierung, im anschließenden Publikumsgespräch. Indem der Vogelzug von Mauerseglern in Zusammenhang gebracht wird mit den Fluchtbewegungen von Menschen, werden auch Assoziationen geweckt, die eine „Naturalisierung“ nahelegen und damit meiner Meinung nach deren Ursachen verschleiern. Ein besonders schöner Moment der Bewegung wird jedoch dadurch kreiert, dass plötzlich die Beleuchtung nicht mehr auf die Bühne, sondern auf das Publikum gewendet wird. Nun sehen wir einerseits dem spielenden Licht zu, wie es seine Farben wechselt und sich hin und her bewegt wie in einem experimentellen Labor. Andererseits werden wir geblendet, durchleuchtet und ins Scheinwerferlicht gestellt. Denn wir sind eben nicht nur Zuschauende, sondern auch Wirkende in dieser Welt.
Das Stück, indem es unsere Blicke, die Blicke aus der westlichen Welt, offenlegt, zeigt nicht nur die blinden Flecken innerhalb unserer Sichtweise, sondern kritisiert gleichzeitig, dass wir uns oftmals nur auf die Rolle der Zuschauenden beschränken. Denn am Ende bewegt sich die vierte Person auf der Bühne, welche das ganze Stück im Hintergrund, fast unbemerkt, still und mit dem Rücken zum Publikum saß. Diese Person, so erkennen wir nun, trägt einen roten Kapuzenpullover. Und wir erinnern uns an das Bild, auf dem ein Mensch in eben derselben Kleidung versucht, über den Zaun nach Melilla zu klettern. Inmitten der medialen Bilderflut auf der Bühne ist diese reale Person untergegangen. Ihr Gesicht bleibt uns die gesamte Inszenierung über verborgen. Der leibhaftige geflüchtete Mensch, mit uns im selben Raum, bleibt unsichtbar. Dies zu thematisieren und zu ändern ist und bleibt wohl noch länger eine wertvolle und wichtige Aufgabe von Theater.