PMO-Theaterkritik: Wenn der Mensch sich zum Gott erhebt

Theater Blaues Haus: „Deus Rising – Sterben lernen im Anthropozän“

Im Rat der Götter gibt es Stress: Draußen stehen zwei Menschen und begehren Einlass. Mensch Mann und Mensch Frau behaupten, sie hätten sich weiterentwickelt. Ihr Verstand habe es ihnen ermöglicht, die letzten Geheimnisse des Lebens zu entschlüsseln, sogar das menschliche Erbgut zu dekodieren. Kurzum: Der Mensch habe selbst Göttlichkeit erlangt. Also sei es nur logisch, einen Platz im Rat zu fordern.

Was für ein Frevel! Kali, die hinduistische Göttin der Zerstörung und Erneuerung, würde den dreisten Emporkömmlingen am liebsten sofort eine tödliche Abreibung verpassen. Die Schlange Quetzalcoatl, Schöpferwesen im aztekischen Universum, hofft derweil auf ein schmackhaftes Menschenopfer – dem göttlichen Speiseplan würde etwas Abwechslung guttun. Göttervater Thor aber donnert mit einem Machtwort dazwischen: Die Menschen sollen ihren Antrag vorbringen. Solange stehen sie unter dem Schutz des göttlichen Rechts.

Im Theater Blaues Haus in Krefeld wird fortan der Anspruch des Menschen auf Göttlichkeit verhandelt. Autor und Regisseur Nils Voges hat dafür zeitgenössische Diskurse über die rationale Entzauberung des Lebens, die unkontrollierte Verselbständigung von Big Data und die drohende Selbstzerstörung durch den Klimawandel gescannt und klug auf wesentliche Aussagen komprimiert. Stella Jabben und Volker Schrills gelingt derweil das Kunststück, als Menschen die göttliche Allmacht infrage zu stellen und zugleich als Puppenspieler ihre mythischen Figuren mit heiliger Entrüstung auszustatten.

Je länger aber der Disput andauert, desto stiller werden die Götter. Denn sie müssen einsehen, dass der Mensch seine Biologie überwunden hat. Er ist mit seiner Ratio in ehemals unergründliche Regionen der schöpferischen Kraft vorgedrungen. Sind die transzendenten Wesen wirklich überflüssig geworden? Bevor es darauf eine endgültige Antwort gibt, schafft der Mensch Fakten. Die Götter werden selbst dekonstruiert, im wahrsten Sinne des Wortes: alles nur Pappmache, Stoff und ein bisschen Hokuspokus! Und daran haben wir geglaubt?

Auch im Publikum ist es leiser geworden. Anfangs hat man noch gelacht über den gerechten göttlichen Zorn, der die menschliche Hybris umgehend bestrafen wollte. Jetzt aber macht sich Beklemmung breit. An wen oder was soll man noch glauben? An uns selbst? Mitten in solche Grübeleien hinein betritt der neue Gott die Bühne. Ein unheimliches Geschöpf, dass sich aus unzähligen Gesichtern zusammenfügt, die mit stumpfen Augen in eine gespenstische Leere starren. In immerwährender Einsamkeit hockt die Menschheit nun auf dem erstrittenen Thron. Ohne das Regulativ der Götter ist von ihr wenig zu erwarten – auf die Selbsterhöhung folgt der Untergang. Im Saal lacht schon lange niemand mehr.

Es ist ein Abend, der in die Grenzbereiche von Verstand und Mythologie entführt, von uneingeschränktem Fortschrittsglauben und vorsichtigem Verharren. Stella Jabben und Volker Schrills schaffen es, die großen Fragen der Menschheit mit frechem Humor und ohne moralischen Duktus zu erörtern. Mit feinem Gespür für ihre unterschiedlichen Charaktere wandeln sie auf der schmalen Grenze zwischen Himmel und Erde, tasten sich vor in jene Spähren, die in der frühen Menschheitsgeschichte klar voneinander getrennt waren. Nun aber mischt der Homo Sapiens die Farben seiner Existenz selbst – und wenn es nur auf der Oberfläche eines Overheadprojektors ist.

Nicht nur in diesem Moment findet das Puppenspiel-Duo für die komplexen Themen, die in diesem Stück aufgegriffen werden, visuell starke Bilder. Trotz der anspruchsvollen Textmenge, die auch Zuschauerinnen und Zuschauern einige Konzentration abverlangt, gibt es immer wieder Seherlebnisse von ganz eigener Kraft. Wenn etwa die Schlange Quetzalcoatl sich über und um die Köper der Spielenden windet, wenn Göttin Kali in Rage ihre vielen Arme zu ordnen versucht oder wenn die selbsterhöhte Menschheit mit den fahlen Gesichtern auf die Bühne stakst.

Das allerstärkste Bild aber ist das letzte. Denn Jabben, Schrills und Voges entlassen ihr Publikum nicht in die Tristesse. Es ist nicht ganz klar, was die neue Gottheit in der Einsamkeit mit sich anfängt. Aber wo es keine Rätsel mehr zu lösen gibt, wartet nur noch die große Leere – wie immer die auch konkret aussehen mag. Was aber folgt auf die Leere? Im Blauen Haus wächst am Ende aus dem Wurzelstock, der zwischenzeitlich Thors Kopf war, ein dünner Pflanzentrieb. Die Hoffnung bleibt.

Klaus Grimberg
 
Spiel, Ausstattung,
Technik: Stella Jabben und Volker Schrills
Text, Regie, Foto: Nils Voges
Musik: Max Kotzmann
Sprecherin: Christine Wolff

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