PMO-Theaterkritik: Zwei brave Schwestern gibt es nur im Märchen
Theater Zitadelle: „Neeweißnich und Rosenrot“
Endlich Sonntag! Draußen im Garten warten die Sonne und ein ruhiges Plätzchen auf der geblümten Liege. Aber es wartet auch der kleine Gartenkobold Bim, der sich schon die ganze Woche auf Besuch gefreut hat. Und auf ein neues Märchen. Nichts ist es also erstmal mit der ersehnten Ruhe. Ein Märchen muss her. Wie wär’s mit der Geschichte von den beiden Schwestern, die eine weiß wie Schnee, die andere rot wie eine Rose? Na gut, sagt Bim, da bin ich mal gespannt.
Flugs verwandelt sich Puppenspielerin Anna Wagner-Fregin in die Mutter der beiden Mädchen und beginnt spielend zu erzählen. In ihrer Version heißen die Töchter „Neeweißnich und Rosenrot“ und sie sind auch gar nicht so lieb und sittsam wie im Märchen. Es braucht nicht viel und zwischen den Schwestern fliegen die Fetzen. So dass ihre Mutter sie zwischendurch mit einem Stoßseufzer in die Kühltasche steckt: „Kühlt euch erst mal ein bisschen ab!“
Auch sonst wird das Märchen sehr frei adaptiert. Es treten auf: Ein goldgieriger König, der überall im Land tief nach dem Edelmetall graben lässt. Und der Zwerg mit dem langen Bart, der wegen der unablässigen Buddelei immer wieder umziehen muss. Als ihm das zu bunt wird, verwandelt er den König kurzerhand in einen Bären. In der neuen Gestalt muss der König einsehen, was er mit seiner Goldbesessenheit alles angerichtet hat. Deshalb erbarmt sich der Zwerg am Ende und verwandelt ihn zurück in den König – jetzt aber nicht mehr im Glitzergewand.
Die originale Geschichte bleibt lediglich in vagen Konturen erhalten. Aber das macht nichts: Denn sie liefert den Rahmen für einen Sonntagnachmittag im Garten, der alles andere als ruhig und gemächlich wird. Im Zentrum steht die Mutter-Erzählerin, die unablässig damit zu tun hat, zwischen ihren Töchtern zu vermitteln, dem zeternden Zwerg zuzuhören und ihren Gartenkobold zufrieden zu stellen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt! Dazu läuft ein fast vergessener Schlager aus den späten 1970er Jahren von Johanna von Koczian: „Das bisschen Haushalt…“ – macht sich eben nicht von allein. Bei der Erinnerung an diesen Song aus einer anderen Zeit dürfen auch die Eltern grinsen.
Mit viel Phantasie verknüpft Anna Wagner-Fregin die Geschichte der beiden ungleichen Schwestern mit einem turbulenten Tag am Wochenendhäuschen. Die Szenerie ergibt sich scheinbar improvisierend aus den Utensilien auf der Terrasse: Ein Handtuch auf der Wäscheleine wird zur Bühne, ein Küchensieb zum Helm und eine alte Wäschespinne zur Bärenfalle. Nur als zwischendurch mal telefoniert werden muss, sind die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer kurzzeitig verwirrt: Aus irgendeiner Kiste taucht ein knallorangener Apparat mit Hörer und Wählscheibe auf. „Das ist doch kein Handy!“ Dieses Ungetüm sorgt im Publikum für viel Heiterkeit!
Die Inszenierung in der Regie von Daniel Wagner ist eine rasche Szenenfolge, bei der die titelgebenden Mädchen eher zu Randfiguren werden, zumal sie zwischendurch auf eine Umweltdemo verschwinden oder mit dem Bär baden gehen. Anna Wanger-Fregin nutzt alle Freiheiten, die ihr die Regie gibt, im Spiel mit ganz unterschiedlichen Hand- und Klappmaulpuppen. Die Unterhaltungen mit dem kleinen Bim, den sie mit einem leichten englischen Akzent ausstattet, werden zu feingliedrigen Miniaturen, die Begegnungen mit dem Zwerg sind im wahrsten Sinne zupackend, so dass der weiße Bart ordentlich hin- und herweht. Ständig verwandelt sich die Bühne in neue Schauplätze und so fliegen die 50 Minuten rasch vorbei; am Ende ist sogar der anspruchsvolle Bim sehr zufrieden.
Kürzlich ist das Theater Zitadelle für seine Produktion „Drachenblut und Blümchenpflaster“ gleich zweifach mit dem Berliner Kinder- und Jugendtheaterpreis IKARUS ausgezeichnet worden. „Im Stück werden auf komische und doch selbstverständliche Weise nicht nur Rollenbilder des klassischen Märchens gebrochen, auch die Spieler hinterfragen sich selbst“, heißt es dazu in der Begründung der Fachjury. „In märchenhafter Ausstattung hervorragend erzählt, entwickeln die beiden eine Spielfreude, die ihresgleichen sucht." Dem ist nichts hinzuzufügen: Denn diese Sätze treffen genauso auch auf „Neeweißnich und Rosenrot“ zu.
Klaus Grimberg
Spiel: Anna Wagner-Fregin
Puppen: Mechtild Nienaber
Regie: Daniel Wagner
Dramaturgie: Regina Wagner
Bühne und Ausstattung: Ralf Wagner
Kostüme und Stoffliches: Evelyne Höpfner
Foto: VESUV