Helgas Reise nach Riga – ein Erzählspiel
- Von Matthias Kuchta, Lille Kartofler Figurentheater
- Erschienen in Ausgabe Nr. 123 (2021/2)
Gedanken zur Inszenierung
Es war natürlich keine gewöhnliche Reise, lange geplant, mit interessanten Highlights wie der Besichtigung des gotischen Backsteindoms in Riga, der gotischen Tore und Mauern und barockübersetzten Kaufmannshäuser, der wundervollen Jugendstilhäuser in der Neustadt, dem Besuch der Synagoge, dem Ausflug zum Ostseestrand.
Nein, eine Familie wird herausgerissen aus ihrem „Alltag“ im Judenhaus Langenfeld, Ganspohler Strasse 13, in dem seit 1939 die in Langenfeld zusammengetriebenen Juden leben mussten, hinausgeführt zum Bahnhof Langenfeld und dort in einen Güterwagen verfrachtet. Wer hat sie begleitet an dem regnerischen Dienstag nach dem 2. Advent 1941, wer hat sie gesehen, wer hat die Ausweisung verfügt, wer hat sie den Meyers ausgehändigt? Wer hat sich getraut, ihnen ein Abschiedswort zuzurufen? Der Weg durch die Adolf-Hitler-Straße zum Bahnhof ist lang und führt an vielen Gasthäusern, Cafés und Geschäften vorbei, auch an der drei Jahre zuvor abgerissenen Synagoge, da sind wohl nur noch die Grundmauern zu sehen. Welcher Gemeindepolizist hat sie begleitet, welcher Reichsbahnschaffner ihnen die Fahrkarten verkauft?
Die Fahrt nach Riga, unter furchtbaren Bedingungen, in ungeheizten Waggons ohne Trinkwasser, bei Temperaturen, die rasch auf minus 18 Grad sinken, dauert drei Tage und endet dann in Hunger, Krankheit, unsäglichem Leid und Tod und Mord unter den Augen der Bewacher im Konzentrationslager Stutthof in den Dünen an der Ostsee.Helga Meyer erhält an ihrem 13. Geburtstag die KZ-Nummer 61644, danach verschwindet sie im Dünensand von Stutthof.
Ich erzähle von dem kurzen Leben der Helga Meyer, geboren am 9. August 1931 in Langenfeld, meiner Wahl-Heimatstadt, in einem Hause, das heute nicht mehr steht. Dafür steht dort die schöne Stadthalle mit einer vorzüglichen Bücherei und der Volkshochschule mit ihrem spannenden Programm und die beliebte Musikschule. Auf dem Marktplatz erinnern Stolpersteine an die Meyers.
Was mich bewegt, kann ich nicht eigentlich benennen, ich brauche die Beschäftigung mit dem Leben der Meyers, um zu erkennen, was sich in dieser kleinen Stadt zugetragen hat, das Aussondern der Juden in kleinen Schritten von 1933 an, das Hassen. Wie konnte Gleichgültigkeit Fuß fassen, wie konnte das Wegschauen auch nach 1945 weiterbestehen?
Ich finde darauf keine Antwort, ich kann nur erzählen auf meine Art, kein unterhaltsames Puppenspiel, nur mit Papierfiguren, aus Zeitungspapier der Jahre 1934-1936 gefertigt, mit Notizen zu der Alltagswelt, vom Schrebergartennutzen zur Treuerklärung zum Führer, von der Einschulung unter den Hakenkreuzfahnen zur Bestrafung von frechen Juden, von Anzeigen für die Tanzschule zum Verkauf von Äpfeln. (Die Zeitungen habe ich vor Jahren auf dem Dachboden meiner Großeltern gefunden. Es sind Spuren ihres Alltags und des Alltags meines Vaters, damals ein junger, vom Führer begeisterter Junglehrer. Die Zeitungsschnipsel sind auch Spuren meiner Familiengeschichte.)
Zurück zum Spiel:
Die Spielfläche ordne ich mit Sand, bestimme dort die Orte, die Lage der Häuser, die Straßen, schiebe die Figuren hin und her. Der Sand deutet den Ghettozaun an, der Sand deutet Helgas „Verschwinden“ im Winter 44/45 an, verschollen in den Todesmärschen, erfroren, verhungert, erschossen, vergast?
Ich versuche an Helga zu erinnern, ihr Würde, ihrem Leben Wichtigkeit, Anerkennung zu geben. Ich versuche, den Tätern das Vergessen und die Gleichgültigkeit zu nehmen. Ihnen Verantwortung zu geben für ihr Verhalten, eine Verantwortung, aus der sich so viele durch Vergessen, Nicht-Wissen-Wollen oder durch die Erleichterung kollektiver Feierstunden entziehen konnten.
In welcher Form lässt sich das verwirklichen?
Mit der Regisseurin Katja Lillih Leinenweber und mit dem Beobachter und Berater, dem Schriftsteller Christoph Heubner, gab es viele Gespräche, Versuche und schließlich die Einigung:
eine Erzählung mit einfachen Mitteln, keine Effekte, keine Sounds, kein Licht, keine den Lebenden nachempfundenen Puppen, nur die einfache Erzählung, die Worte, keine Dramatisierung, nur eine Auswahl, eine Sammlung von Ereignissen im Leben der Helga, zusammengestellt mit den Ereignissen im Leben anderer Langenfelder Bürger, vom Elferrat des Karnevalvereins zur Kindergartenleiterin.
Ist das „Theater“? „Puppentheater“? Mir ist die Frage nicht wichtig. Es ist eine bebilderte Erzählung, eben ein Diskussionsbeitrag zu Verantwortung und Gedenken.
Ist es Besessenheit, Herumreiten auf dem alten Thema, Betroffenheitspflege, Zeigefingerpädagogik?
Das entscheidet der Zuschauer.
Für mich sind es bis heute ungeklärte Fragen, Erschütterungen, die in uns wirken und in unserer Gesellschaft, die heftige Emotionen, Abwehr, Aggressivität, Distanzierung oder aber auch plötzlich ungeahnt intensive Gespräche über eigene Familienerfahrungen und Verstrickungen hervorbringen.
Christoph Heubner und ich kennen uns seit den 70er Jahren. Er war im Rahmen der Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste der erste Zivildienstleistende aus der BRD in der Gedenkstätte Stutthof, ich begann meinen Zivildienst in der Gedenkstätte Auschwitz. Christoph Heubners Weg in der Erinnnerungsarbeit und Aufklärung führte ihn zum Internationalen Auschwitzkomitee, dessen Exekutiv Direktor er heute ist.
Mein Weg führte mich über ein Geschichts- und Slavistikstudium zum Puppentheater und der Liebe zu den Märchenstoffen. Da geht es auch oft um das Hoffen, Erfahren, Lernen und Befreien.
Katja Lillih Leinenweber lernte ich bei den Arbeiten zu „Papas Kriegen“ kennen, einer Auftragsproduktion der Neanderland Biennale, eine Zusammenarbeit mit Kollegen aus Frankreich und Polen zu den Kriegsbriefen unserer Eltern und Großeltern. Katja Lillih Leinenweber war die künstlerische Leiterin des Festivals. Das Thema Zivilcourage, Menschenwürde, den anderen achten, verstehen, ihm ein Gesicht geben, ihm Verantwortung für sein Tun geben, ist Thema all ihrer bisherigen Regiearbeiten.
Großen Dank an beide für ihr Mitwirken.